Michaela Schweiger
Über einen Versuch, mit Löchern zu bauen
Von Annelie Pohlen



Stadtplanung und Gesellschaftsvorstellungen greifen ineinander, seit Menschen in größeren Gemeinschaften siedeln. Bis heute haben alle geistigen Disziplinen, mithin auch die Kunst Anteil an der Entwicklung dieses Zusammenspiels. Als 1957 in Berlin das Hansaviertel gebaut wird, kehrt eine in wesentlichen Teilen von der bildenden Kunst geprägte Utopie nach Deutschland zurück. Aus heutiger Sicht ist es die letzte große Utopie von einer freien, die sozialen Schranken durchbrechenden Architektur. Kollidiert deren Kernstück, die „Stadt von morgen“, zunächst mit der Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit in einer von Ideologie und Krieg zerschlagenen Gesellschaft, so avanciert die ‚Musterstadt’ in den folgenden Jahrzehnten zur Zielscheibe totaler Ablehnung der Moderne und seit den 90er Jahren – auch in der bildenden Kunst – zum Modellfall für eine komplexere Untersuchung von Urbanität und Gesellschaft.

Den Paradigmenwechsel im sozialen Diskurs, den schleichenden Übergang von sozialen Utopien in informelle, auf Zeit agierende Gemeinschaften von wandernden Mikrokosmen und global agierenden Wirtschaftsnetzwerken transformiert Michaela Schweiger in ihren je ortsbezogenen, Medien übergreifenden Film-Installationen in ein ironisch schillerndes, aus den disparaten Wirklichkeitskreisen gefiltertes Rollenspiel zwischen kritischer Reflexion und sinnlicher Anschauung.

Aus den U-Bahnnachrichten entnimmt sie 2004, dass BurgerKing den so genannten Berlin Pavillon beziehen wird. Es handelt sich damit just um das Bauwerk, in dem 1957 die von der IBA unter dem ambitionierten Titel „Die Welt in Berlin“ veranstaltete Ausstellung zum Neubau des Hansaviertels organisiert wurde. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, nicht mit Blick auf Berlins Ambitionen von heute, auch nicht mit Blick auf die Tatsache, dass sich BurgerKings und vergleichbare Globalplayer inzwischen nicht nur die Schnörkel des ‚old Europe’, sondern längst die internationalen Ikonen der Moderne einverleiben; und das impliziert zugleich das Dilemma eben jener modernen Hoffnungsträger, deren angestrebte Internationalität in der sozial gerechten „Stadt von morgen“ in Berlin wie andernorts längst vom internationalen Neoliberalismus instrumentalisiert und von beider meist unfreiwilligen Nutznießern und/oder Opfern konterkariert ist.

Es ist nicht das erste Mal, dass Michaela Schweiger bei ihrer Auseinandersetzung mit Utopien und Realitäten im Umfeld des Stadtdiskurses den Wechselstrom zwischen Vision und internationaler, im gegebenen Falle amerikanisch geprägter kapitalistischer Wirklichkeit in eine offene Leitung speist. Anders als in ihren vorausgehenden Werken findet die schleichende Demontage der vergangenen Utopien durch alltägliche Gegebenheiten und globale Netzwerke weniger sichtbar auf der formalen Ebene statt. An die Stelle einer dem Comic entlehnten Bildergeschichte wie in „schon siegt die fiktion über die realität“, 2002, und der harten Konfrontation der Filmsequenzen aus Claude Faraldos 1973 gedrehten „Themroc“ mit dem akzentuiert in Szene gesetzten Alltag aus Deutschland Ost in „Besuch bei Themroc“, 2004, führt „Zurück in die Stadt von morgen“ in ein subtil in Szene gesetztes Pingpong an einem Schauplatz, der zugleich als Faktenlieferant und als ‚Bühnenbild’ funktioniert, und derart in ein Szenario, in dem sich die Grenzen zwischen den dokumentarisch anmutenden Wirklichkeitskonstruktionen und deren fiktionalen, bisweilen gar seltsam komischen Transformationen zunehmend auflösen. Auch dieses Werk basiert auf umfassenden Recherchen zur wechselseitigen Bedingtheit von gesellschaftlichen Entwicklungen und urbanen Entwürfen im theoretischen Modell und in der alltäglichen Wirklichkeit. Die Stadt als zentraler, lexikalisch wie empirisch definierbarer Forschungsgegenstand mutiert in eine destabilisierte Zone zwischen rationaler Analyse und fiktionalem Theater.

Am Anfang stapft ein junger Mann durch Naturgelände; man vermutet ihn als jenen Erzähler, der den Betrachter fortan durch Schweigers Recherchen zum Hansaviertel begleiten könnte. Für einen kurzen Moment sieht man einen Trupp emsig herumlaufender Ameisen, deren komplexe Siedlungsweise auch hier als Musterbild wie Schreckensvision organisierter Gemeinschaften besticht. Harter Schnitt. Menschen in der U-Bahn. Stopp an einer Station, von deren Namen lediglich das Ende zu sehen ist: PLATZ. Wieder Schnitt: Drei auf einer Baubrache postierte, aus extremer Untersicht gefilmte ältere Männer. Ende des Vorspanns. Es folgt der Titel „Zurück in die Stadt von morgen“ und dann: gleicher Schauplatz, diesmal posieren drei junge Männer. Die Kamera gleitet über das Hansaviertel. Ein Kirchturm taucht auf. Der junge Mann nähert sich den Gebäuden, überquert einen offenen Platz, begibt sich in eine Bibliothek und nimmt ein Buch zur Hand. Er sucht die „Stadt von morgen“. Er schlägt es auf und damit liegt nicht nur das Thema, sondern auch die Struktur seiner szenischen Aufführung auf dem Tisch. Im Fortlauf gerät der Betrachter zunehmend in den Sog einer bisweilen surreal montierten Geschichte. Sie folgt nicht der linearen Logik einer nun schon über viele Generationen andauernden Analyse des langsamen Scheiterns sozialer Utopien an den sozioökonomischen Gegebenheiten, sondern führt in einen in ein Labyrinth der konstruierten Wirklichkeiten katapultierten Stafettenlauf von inszenierten Episoden, von in Szene gesetzten Fragmenten hoffnungsvoller Theorien, aufgezeichneter Erinnerungen, propagandistischer Slogans, möglicher Ist-Zustände und surrealer Begegnungen auf Schauplätzen, die – auch sie – ihre ironisch unterfütterte, bedeutungsträchtige Rolle spielen.

Vom Naturgelände über das Brachland zum Platz vor der Bibliothek, von dort auf die um die Gebäude führenden Wege zu den Wohnbereichen und weiter in die menschenleeren Flure der Appartementhäuser mit seltenen Blicken in deren Inneres und immer wieder zurück in jenen mittels Neonschrift als Café deklarierten Raum, an dem nicht nur die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, sondern auch die Bedeutungsleere von Verheißungen in ein komplexes Stelldichein zwischen sentimentaler Erinnerung und trotzigem Unverständnis verstrickt sind. Was in der Bibliothek, dem Ort der Recherche, seinen Ausgang nimmt, führt in einem verwirrenden Rollenspiel der wie Schausteller für Theorien, Visionen, Erfahrungen, Werbung und Propaganda agierenden Protagonisten durch ein Hansaviertel der für sich selbst sprechenden Bilder. Zwischen hier alltäglich bekannten Situationen - ein Kleinkind auf der Schaukel, eine gestresste, vermutlich allein erziehende Mutter, die ihren Sohn der lauten Musik wegen zur Ordnung ruft, und anderes mehr – dort dezidiert befremdlich gestellten Episoden verschieben sich die Szenarios zwischen den öffentlichen Bühnen und den vermeintlichen Privaträumen.

Die Türspione an den Eingängen, die menschenleeren Flure als Laufsteg der in einer diffusen Rolle agierenden jungen Frau, eine gläserne Tür in der offenen Glasfassade des Cafés avancieren selbst zu metaphorischen Rollenspielern. Im Labyrinth von Möglichkeiten, verpassten Chancen, kreativen Spekulationen und harten Fakten kann ein purer Baustoff wie Linoleum zum Akteur werden und seine Nutzer als Boten von Erfahrungen und Deutungen auf die Bühne schicken. Montage und Blickwechsel sind zwei Seiten einer Medaille, die Wirklichkeit heißt und auch Fiktion.

In Josef Vogls „Enttotalisierte Begegnungsformen“ betitelten Interview zum sozialen Wandel als Grundlage zukünftiger Stadtplanung ist – mit Blick auf Michaela Schweigers Werk –ein Verweis auf Franz Kafkas „Bau der chinesischen Mauer“ von besonderem Interesse:„Dort wird gesagt, dass die Mauer, die das ‚Volk’ umschließen soll, nur in Rudimenten, also mit Löchern gebaut werden darf.“ 1 Eben dieser Porosität wegen taucht Schweigers Werk an den schillernden Übergängen zwischen Dokument und Fiktion in Wort und Bild in ein Klima von theatralischer wie bisweilen gar poetischer Flexibilität, welches dem theoretischen Diskurs, dem sich die Künstlerin durchaus verpflichtet fühlt, zu jenem Mehrwert verhilft, der künstlerische Grundlagenforschung von der wissenschaftlichen Analyse unterscheidet.

Als der oben vorgestellte Bibliotheksbesucher den Blick vom aufgeschlagenen Buch in den Raum wendet, wechselt unmerklich das Klima, als sei man in einem Milieu zwischen jenem Kafkas und dem des Nouveau Roman gelandet. Drei ältere Nutzer, es sind die Männer aus dem Vorspann, fixieren den Neuen, als sei er ein ungebetener Eindringling, weswegen er möglicherweise das Buch zuklappt und geht. Die Herren folgen ihm, begegnen frontal drei eiligen Jungmännern, eben jenen, die ihren Platz schon zuvor auf der Baubrache eingenommen haben, wechseln abrupt die Richtung. Zwei Generationen, zwei Haltungen, visionäre Stadtplaner und effektive Manager? Irgendwann werden die Löcher, die Leerstellen zwischen den ‚handelnden’ Personen, Theorien und Schauplätzen zum Ort der Imagination.

Zu beispielhafter Intensität findet Schweigers anspielungsreiche Bildsprache – auch mit Blick auf Vogls Theoriegebäude - in einer Verkettung von Spielszenen: auf dem großzügigen Eingangsgelände zum Leseraum ist eine grundrissartige Zeichnung zu sehen. In dieser springen Menschen verschiedenen Alters zwischen den Räumen hin und her wie Kinder in dem weltweit bekannten Hüpfkastenspiel „Himmel und Erde“, als gelte es, mangels Löchern in den Wänden die Mauern im sozialen Gefüge zu überwinden. Doch die Schausteller von einer freien urbanen Gesellschaft verweigern Fremden alsbald den Zutritt und irgendwann sind die Träume von einer freien Zukunft als Slogans der ‚freien’ Entfaltung auf Pappkartons gelandet. Während diese von den flotten Jungmännern ins Bild gerückt werden, widmen sich deren Konsumenten - vom harten Ton der neoliberalen Slogans wie der gleichgeschalteten Sprünge untermalt - einem anderen Kinderspiel. Das geschickte Hüpfen über das Seil gerät zur organisierten Propagandaschau. „Es reicht“. Der dies sagt, ist einer der Architekten im langsamen Rollentausch vom einstigen Visionär zum kritischen Beobachter der schleichenden Verschiebungen zwischen den „Generationen“ von Theorien, Zukunftsvisionen und platter Propaganda.
Zwei Worte versetzen die Porosität der – auch - metaphorischen Bildsequenzen wie jene der Rede in Wort-, Satz- und Textfragmente derart in einen suggestiven Schwebezustand, dass dem Betrachter nichts anderes bleibt, als den Schauplatz, den Ort der Bilder und die Fragmente der in Bildern und Texten montierten Erzählungen, Kommentare, Analysen, mit dem eigenen aus vielen emotional wie rational gefilterten Quellen gespeisten Wirklichkeitsbewusstsein zu vernetzen. Wirklichkeit ist bestenfalls eine Konstruktion, in der sich die Sehweisen zwischen Vision und empirischen Fakten verschieben lassen wie Bühnenkulissen in Schweigers Inszenierung im Ausstellungsraum: der Utopie von einer modernen Gesellschaft folgten die DIN-Normen als Instrumentarium für einen funktionierenden sozialen Ausgleich.2 Auf der Bühne der Vorstellungen, in den für den konkreten Ort der Filmpräsentation konstruierten Installationen erweitern deren Rasterfragmente die filmische Konstruktion um deren in architektonischen Chiffren kondensierte sinnliche Wahrnehmung theoretischer Konstruktionen.


1. Enttotalisierte Begegnungsformen. Interview mit Joseph Vogl, Berlin, 3. Oktober 2003 Anarchitecture S. 5
2. Noch heute unterstreicht das Institut für DIN-Normen die Bedeutung des Ausgleichs von wirtschaftlicher Effizienz und Sozialtauglichkeit.